Toleranz, was ist das? »Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.« Karl Kraus Unser ziemlich idyllisches Stadtteilchen namens »Zabo«: ein Hort der Toleranz? Dies jedenfalls lässt das vollmundige Motto des diesjährigen Stadtteilfestes vermuten: »Zabo lebt Toleranz.« Bezug genommen wird damit vor allem auf Flüchtlinge, Migranten, Zugereiste. Man könnte frei- lich einwenden, dass es ein leichtes Toleranz-Spiel ist, denn die Anzahl der zu Tolerierenden ist sehr gering und prägt in keiner Weise das Stadtteil- Bild. Und was ist das überhaupt, Toleranz? Das Ahnwort stammt aus dem Lateinischen, heißt »tolerare « und bedeutet »erdulden, ertragen«. Natür- lich hat der Begriff über die Zeiten hinweg einen gewissen Bedeutungs- wandel erlebt, der Kern aber bleibt bestehen: Toleranz ist ein in der Regel unreflektiertes Gefühl mit nebulösem Charakter. Respekt und Achtung vor »Andersseiendem« fordert immerhin das deutsche Grundgesetz, sowieso die Achtung der Menschenwürde. Aber man muss keineswegs achten oder respektieren, wenn man toleriert. Man duldet, und jede Geduld kommt bekanntlich rasch an ihre Grenzen. »Toleranz« erfordert keinerlei geistige, informative Auseinandersetzung mit dem Tolerierten, es ist ein passiver Begriff, geschminkt mit humanis- tischer Tönung, der in der Regel aus einer Grundierung von Klischeevor- stellungen und unreflektierten Vorurteilen besteht. Man muss also beim Fremden, Anderen nicht genau hinschauen, muss gar nicht in dessen Nähe kommen. Da mag durchaus eine unterschwellige Ablehnung, eine grimmige Duldung moussieren, die bei entsprechendem Anlass in hef- tigste Intoleranz umschlagen kann. Und dass diese epidemisch werden kann, zeigt nicht nur die gar nicht alte deutsche Geschichte, die Gegenwart gibt täglich Beispiele dafür, wie latente Ressentiments politisch instrumentalisiert werden; und damit ist nicht nur der ferne US-Präsident gemeint. Die Judenverfolgung war kei- neswegs nur eine deutsche Spezialität, und man fragt sich immer noch angesichts nüchterner Fakten, wieso damals eine nahezu gesamte »Volks- gemeinschaft« im Juden ein Unglück sah: Im Jahr 1933, also dem Jahr der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, lebten nicht einmal 500.000 Juden im deutschen Reich, das ist weniger als ein Prozent (!) der damaligen Gesamtbevölkerung. Sehr viele Juden flüchteten etwa im 19. Jahrhundert vor Progromen im zaristischen Russland und fanden Auf- nahme in westeuropäischen Ländern, insbesondere im österreichischen k.u.k. Kaiserreich. Sie wurden toleriert – und gleichzeitig diskriminiert. Viele Juden wollten sich assimilieren, also ihre jüdische Identität aufge- ben, deutsch werden, wovon besonders das Kultur- Wissenschafts- und Geistesleben unglaubliche Impulse erlebte. Es hat nichts genutzt, die Toleranz-Ära war trügerisch und kippte per Rassenirrsinn mörderisch um. Leben wir jetzt in aufgeklärten Zeiten? Längst wird toleriert, dass einst vollkommen regional aufgestellte Vereine ihre Fußballspieler in der gan- zen Welt zusammenklauben. Dasselbe gilt in der Musiklandschaft, in der wirklich jede Form von noch so exotisch anmutender Musik auch bei uns Zuhörerschaften findet – siehe etwa das Nürnberger Bardentreffen. Und Jazz, von unseren Vätern einst als »Negermusik« deklassiert , fand jüngst im Luitpoldhain 50.000 ziemlich begeisterte Zuhörer. Ähnliches gilt für die einst als »Affenmusik» niedergemachte Beat-Musik, in deren Gefolge nicht nur lange Haare, Gammler und Hippies den Volkszorn erregten. Das waren nur die Vorboten einer westweltweiten, gesellschaftspolitisch moti- vierten Jugendprotestbewegung, die es sehr ernst meinte mit Menschen- rechten und einer gewaltfreien Welt. »Repressive Toleranz« heißt ein zum Leitbegriff gewordener Slogan des Soziologen und Philosophen Herbert Marcuse aus jener Zeit (1965). Er bezieht sich auf Vorgänge und Aktivitäten im politischen Raum, die gedul- det, toleriert werden, aber keinesfalls toleriert werden dürften. Damit war etwa der Vietnamkrieg gemeint, in Deutschland insbesondere die totge- schwiegene NS-Zeit. Heute könnte man beispielsweise den Waffenwahn von – männlichen – US-Bürgern anführen, dort ein absolutes Tabu-Thema. Aber selbst in Deutschland lagern Millionen von Waffen in Privathaus- halten, und dass unser friedfertiges Land weltweit in Sachen Waffenher- stellung und -export sehr aktiv und erfolgreich ist, war bislang noch nie handlungsorientiertes politisches Thema. Herbert Marcuse forderte, Toleranz müsse »ein parteiliches Ziel, ein sub- versiver, befreiender Begriff«, eine ebensolche Praxis und »intolerant gegenüber den Wortführern des unterdrückenden Status quo« werden. Ähnlich formulierte es auch die Theologin und Sozialkritikerin Dorothee Sölle. Sie wandte sich gegen eine »skeptische Toleranz«, die lediglich pas- siv, zulassend und duldend sei. Und sie forderte eine »echte kämpferische Toleranz«. Denn: Was nur toleriert wird, bleibt fremd. Jochen Schmoldt, Zabo 35